Die Interessen unserer Versicherten stehen im Mittelpunkt unseres Handelns.

Zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz führte BIV-Vorstandsmitglied Hermann Schmitt (HS) ein Gespräch mit der Bereichsleiterin Pflege und Gesundheit der AWO Mittewest-Thüringen, Frau Diana Schmidt und besuchte dazu das erste Thüringer Pflegehotel in Magdala.
Anita Wagner, Pflegefachkraft, Ulrike Lehmann, Einrichtungsleiterin, Hermann Schmitt (v.l.n.r.), und Manuela Wiertschok, Betreuungskraft (auf dem Balkon)
Hermann Schmitt (HS): Hallo Frau Schmidt, zunächst einmal vielen Dank für Ihre Bereitschaft der BARMER Interessenvertretung der Versicherten (BIV) aus Sicht der Pflege einige Eindrücke zum neusten Gesetz in Ihrem Fachbereich zu schildern. In den letzten Jahren war die Pflege und besonders der Pflegeberuf immer wieder auf der politischen Tagesordnung und es hat einiges an Gesetzesänderungen gebracht. Sind Sie schon zufrieden? Gab es erlebbare Verbesserungen für Pflegebedürftige und Pflegende? Wenn ja, welche?
Diana Schmidt (DS): Die demografische Entwicklung, und der damit verbundene Anstieg pflegebedürftiger Personen, zeigt unsere zukünftigen Aufgaben in der Pflegebranche klar auf. Wissenschaftliche Veröffentlichungen belegen dies. Nur wenn wir, und hier meine ich Politik, Kostenträger und Pflegeanbieter gleichermaßen, ins proaktive Handeln kommen, können wir die Bedarfe in den Jahren 2030, 2040 oder 2050 adäquat und professionell decken. Erste Ansätze wurden politisch auf den Weg gebracht: die Umstellung der Pflegestufen auf die Pflegegrade zum Beispiel, die generalistische Pflegeausbildung oder das PpSG, das PflegepersonalStärkungsGesetz. Nun kommen das GVWG, das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz, oder Pflegereform genannt, und das DVPMG, das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz. Sie sehen, die Veröffentlichungen neuer Gesetzgebungen erhöhen sich. Deutlich wird in jedem Fall, wir stecken mitten im Wandel. Es ist unser gemeinsamer politischer, gesellschaftlicher und pflegefachlicher Generationsauftrag, praxisnahe und bedarfsgerechte Lösungen zu etablieren und dies vor allem mit Mut zu Veränderung von bisherigen Strukturen und Prozessen.
HS: In den letzten Tagen hat der Bundestag das wohl letzte Gesetz in dieser Wahlperiode verabschiedet, in dem es unter anderem auch wieder um die Pflege geht. Das sogenannte Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz. Was sagen Sie zur Regelung, dass ab September 2022 die Pflegekassen nur noch mit Pflegeeinrichtungen Versorgungsverträge abschließen dürfen, wenn sie auch Tariflöhne an die Mitarbeiter/innen zahlen?
DS: Es ist der einzig logische Schritt, Pflegeberufe monetär aufzuwerten. Besonders im Bereich der Altenpflege sehe ich Handlungsbedarf. Der AWO Regionalverband Mitte-West-Thüringen e.V. stellt sich dieser Aufgabe und setzt sich zum Ziel, den TVÖD künftig anzuwenden. Dieser Angleichungsprozess wird sukzessive gestaltet. Mit unseren eigenen Erfahrungen im Regionalverband wollen wir andere Träger von Pflegeeinrichtungen motivieren, diesen Schritt ebenfalls zu gehen. Wir begrüßen die gesetzliche Verankerung.
HS: Wie schätzen Sie die Wirkungen eines reduzierten Eigenanteils der Versicherten bei länger andauernder Pflege ein? So soll der Eigenanteil für die reinen Pflegekosten z.B ab dem 2. Pflegejahr um 25 % gesenkt und von den Pflegekassen übernommen werden.
DS: Von Jahr zu Jahr, mit jeder Pflegesatzverhandlung, steigen die Eigenanteile der Bewohner*innen in den stationären Pflegeeinrichtungen. Gründe hierfür sind steigende Personal- und Sachkosten, das Einkalkulieren von Instandhaltungsmaßnahmen und konzeptionelle Weiterentwicklungen. Seit der Umstellung von den Pflegestufen auf Pflegegrade (01.01.2017) zahlen die Pflegekassen für einen stationären Pflegeplatz das gleiche Budget/ Monat. Dies wurde bisher nie angepasst und ist jedoch dringend notwendig. Jede mit den Pflegekassen vereinbarte Erhöhung ging daher bisher zu Lasten der Pflegebedürftigen. Diese Entwicklung muss aufgehalten werden. Dafür braucht es Lösungen. Die anteilige Übernahme von Kosten des Eigenanteils ist ein erster Schritt (GVWG), jedoch keine vollumfängliche Lösung. Hier muss die Politik gut mit den Expert*innen aus der Praxis in den Dialog treten, um neue Finanzierungskonzepte und Kostenstrukturen zu erarbeiten. Dies sehe ich als wichtige pflegepolitische Aufgabe in der kommenden Legislaturperiode auf Bundes- als auch Landesebene.
HS: Die Pflegeleistungen der Kassen sollen in der ambulanten Pflege 2022 um einmalig 5 % dynamisiert und in der Kurzzeitpflege um 10 % erhöht werden. Ist das Ihrer Meinung nach ein richtiger Schritt?
DS: Diese Maßnahmen stehen ebenfalls mit der Tarifentwicklung im Zusammenhang. Die Personalkosten werden natürlich steigen, wenn Träger von Pflegeeinrichtungen Tariflohn zahlen werden. Was in der vollstationären Pflege die anteilige Übernahme des Eigenanteils ist, ist im ambulanten Bereich und in der Kurzzeitpflege ein kassenseitiger prozentualer Budgetaufschlag. Ob dieser in der vorgeschlagenen Höhe auskömmlich sein wird, muss in der Praxis gut reflektiert werden.
HS: Was wünschen Sie sich besonders für die Pflege von einer neuen Bundesregierung?
DS: Da fällt mir sehr viel ein. Ich erkenne, dass wir schnelle und fachlich fundierte Strategien entwickeln müssen- Politik, Kassenvertretungen und Verbände von Pflegeeinrichtungen gemeinsam. Nur wenn wir zusammen in die Zukunft schauen, können wir eine Versorgungsstruktur im Sinne des Kunden und seinen Bedürfnissen gestalten. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, werteorientierte, kostendeckende Konzepte zu entwickeln. Politik, Wissenschaft und Praxis müssen stärker zusammenarbeiten, Synergien schaffen und Mehrwert generieren.
‚Pflexit‘ ist ein Begriff, welcher sich durch die Pandemie formte und immer mehr an Präsenz gewann. Ich blicke gespannt auf die nächsten Jahre, in denen wir wichtige Weichen für die Pflegelandschaft in Deutschland stellen werden. Politische Vertreter*innen können und müssen in ihrem Wirkungsfeld noch stärker als zuvor positive Lobbyarbeit für den Pflegeberuf leisten.
Ich wünsche mir außerdem eine Interessenvertretung auf den Landes- und Bundesebenen, welche von fachlicher Partizipation und Interaktion MIT den Pfleger*innen geprägt ist. Wir wollen nicht über die Pflege sondern mit der Pflege sprechen, uns zuhören, einander verstehen und zusammenarbeiten.
Es widerstrebt der Motivation vieler Berufsanfänger*innen, in einen Kreislauf aus Personalstreichungen, Mehrarbeit, Kontrollen und Frustration zu geraten. Gewinnmaximierung und Gesundheitswesen dürfen in Zukunft nicht in einem Kontext genannt werden. Wir wollen den hilfebedürftigen Menschen professionell unterstützen, ihn betreuen, pflegen und in einer besonderen Situation begleiten. Hierfür sind wirtschaftliche, personelle und fachliche Rahmenbedingungen notwendig.
Bildungspolitik: Die Pflegebranche befindet sich im Umbruch. Hilfs-, Fach- und Führungskräfte müssen darauf vorbereitet werden. Change- und Innovationsmanagement sollte als festes Fach in den Lehrplänen in der pflegerischen Aus- Fort- und Weiterbildung verankert sein. Das ist mein großer Wunsch in Bezug auf die Kompetenzentwicklung unserer künftigen Mitarbeiter*innen.